Valeria Luiselli – Die Geschichte meiner Zähne

Es geht um Zähne, es geht ums Geschichtenerzählen und irgendwie auch um Duchamp – Valeria Luiselli legt mit „Die Geschichte meiner Zähne“ einen merkwürdig anmutenden Roman für Literatur- und Kunstliebhaber vor.

Valeria Luiselli Filter

Es gibt Geschichten, die muss man von hinten aufrollen – so zum Beispiel Valeria Luisellis „Die Geschichte meiner Zähne“, ein Roman, den sie selbst als „novel-essay“ beschreibt. „Die Geschichte meiner Zähne“, ist der zweite Roman (bleiben wir mal bei dieser Bezeichnung) der gebürtigen Mexikanerin, der, so verrät sie im Epilog, dank der Arbeiter einer Saftfabrik in Ecatepec am Rande Mexiko-Stadts entstand. In Austausch mit diesen Arbeitern kreierte sie einen Fortsetzungsroman, viele mosaikartige Geschichten, die von einem losen Rahmen zusammengehalten werden. Den Rahmen bildet Carretera, der Auktionator und besessen von Zähnen ist, vor allem das (vermeintliche) Gebiss Marilyn Monroes hat es ihm angetan. Allerdings ist Carretera kein gewöhnlicher Auktionator: „Ich war kein gemeiner Verkäufer von Gegenständen, sondern, vor allem anderen, ein Liebhaber und Sammler guter Geschichten.“ Und diese vielen Geschichten sind in „Die Geschichte meiner Zähne“ gesammelt.

„Das Spiel, das der Roman anbietet, besteht also darin, die Objekte aus dem Kontext zu rücken, der ihnen Wert und Autorität verleiht – gewissermaßen der umgekehrte Vorgang wie bei Marcel Duchamp –, und zu beobachten, wie das Bedeutung und Interpretation verändert“, erklärt Luiselli auf der letzten Seite. Und diese Entkontextualisierung betreibt sie radikal: Rubén Darío, Hochimín, Jorge Ibargüengoitia, Miguel Sánchez Foucault, Platon, Virginia Woolf, Marcelo Sánchez-Proust, Juan Pablo Sánchez Sartre, Juan Gabriel Vásquez, Juan Villoro – so heißen ihre Figuren, deren Namen völlig aus dem Kontext gerückt und fern ihres Schriftstellertums als Nachbarn, Bekannte und Anekdoten Carreteras fungieren. Luiselli scheut nicht davor zurück, auch sich selbst und ihren Ehemann als Figuren zu verwenden und sie, um ihren Vergleich aufzugreifen, als umgekehrte duchampche Pissoirs zu entfremden. Wer in der mexikanischen Literatur nicht fest verankert ist, dem werden einige Namen und Anspielungen entgehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeiter der Saftfabrik am Rande Mexiko-Stadts alle Namen dieser kulturellen Welt kennen, ist allerdings auch sehr gering; es ist die literarische Welt, die die Namen mit Bedeutung auflädt. Gleichzeitig bekommen Namen, die dem Leser nicht vertraut sind, durch Luisellis Spiel mit der Realität neue Gewichtung. So oder so: Die Intertextualität sprengt alle Grenzen, der Roman ist meta-meta-meta und vor allem als Kunstprojekt und weniger als Roman gedacht.

Carretera entpuppt sich zudem als unzuverlässiger Erzähler. Die Wahrnehmung wird nicht nur durch die Verrückung bekannter Namen gestört, sondern auch durch die Richtigstellung der Falschaussagen Carreteras gegen Ende des Romans. „Die Geschichte meiner Zähne“ ist vor allem ein Spiel voller ironischer literarischer Andeutungen, bei denen Dinge in einen Zusammenhang gesetzt werden, die eigentlich zusammenhangslos sind. An diesem Spiel muss man großen Gefallen finden, sonst wird die Lektüre mitunter anstrengend.

In der englischen Übersetzung wird diese Dekonstruktion übrigens auf die Spitze getrieben: Während im spanischsprachigen Original und in der deutschen Übertragung Carreteras Sohn Ratzinger (ja, wie der Papst) heißt, wird er in der englischen Ausgabe „Siddhartha“ getauft. Das Verwirrspiel um die Namen ist somit komplett.

Valeria Luiselli in der New York Public Library, Oktober 2015

Valeria Luiselli – Die Geschichte meiner Zähne
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Verlag Antje Kunstmann, München
März 2016, 191 Seiten

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